A. Hartmann: Meister Putsch und seine Gesellen

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Titel
Meister Putsch und seine Gesellen. Ein helvetischer Roman in sechs Büchern


Autor(en)
Hartmann, Alfred
Herausgeber
Zihlmann-Märki, Patricia; von Zimmermann, Christian
Reihe
Schweizer Texte. Neue Folge
Erschienen
Zürich 2018: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
409 S.
von
Ruedi Graf

Der 1858 erschienene Roman des Solothurner Schriftstellers und Herausgebers der satirischen Zeitschrift Postheiri, Alfred Hartmann, erzählt die Geschichte von Fritz Waldmann, Pächtersohn auf einem patrizischen Gutsbetrieb, der während seines Rechtsstudiums an der Berner Hochschule zum Radikalen wird und sich im Umkreis der jungen Rechtsschule Wilhelm Snells und der Berner Radikalen um Stämpfli bewegt. Sein Vater, der Schlosspächter, steht im Dienste eines Berner Patriziers, des Junkers von Matstetten. Die Handlung, welche die Zeit von 1840 (eidgenössisches Schützenfest in Solothurn) bis 1857 (Neuenburger Handel) umfasst, entwickelt sich sowohl auf einer politischen wie privaten und sentimentalen Ebene. Der politische Handlungsstrang wird eingeleitet durch das Schützenfest in Solothurn, eine Bühne für eidgenössische Berühmtheiten, die auch Hartmanns Roman bevölkern; er setzt sich fort mit dem Aargauer Klostersturm, dem konservativen Umsturz in Luzern mit der Jesuitenberu-fung, dem zweiten Freischarenzug, dem Sonderbundskrieg und der Bundesstaatsgründung und einer kurzen Coda zur Grenzbesetzung während des Neuenburger Handels. Die Exposition mit dem Solothurner Schützenfest markiert dabei den Traum einer nationalen Versöhnung, der, durch radikale Heisssporne und deutsche Emigranten immer wieder gestört, schliesslich mit der Bundesverfassung und der Abwehr des äusseren Feindes im Neuenburger Handel realisiert wird. Diese Versöhnungsperspektive, die dem Roman seinen Fluchtpunkt gibt, taucht im Handlungsablauf in verschiedenen Motiven immer wieder auf, etwa in der dreimaligen Begegnung des Romanhelden Fritz Waldmann mit einer katholischen Freiämter Familie.

Verknüpft wird diese politische Geschichte mit einer Familien- und Liebesgeschichte. Der Romanheld steht nämlich nicht nur zwischen Schweizer Radikalen und deutschen Emigranten einerseits, Konservativen und Reaktionären andererseits, sondern auch zwischen drei Frauen, der emanzipierten deutschen Demokratin Franziska, dem Schlossfräulein Mathilde und Bäbeli, der Tochter des Schlosspächters, die zunächst seine eigene Schwester zu sein scheint. Wie er sich im Politischen gegen die Radikalen und für die Versöhnungspartei um Dufour und Ochsenbein entscheidet, so entscheidet er sich in der Liebe gegen die revolutionäre Franziska und nach einigen weiteren Irrungen und Wirrungen am Ende für Bäbeli, das Kind des Volkes. Das wird allerdings erst in dem Moment möglich, als sich eine weitere Verwicklung gelöst hat. Nach dem Tod des Erben von Matstetten, der im Sonderbundskrieg auf der Flucht von einer Kanonenkugel ereilt worden war, stellt sich nämlich heraus, dass die gleichaltrigen Söhne des Schlossherrn und seines Pächters in der Wiege ausgetauscht worden waren. Fritz Waldmann ist also Herr von Matstetten, und Theophil, der vermeintliche Stammhalter, war der Sohn des Pächters und der Bruder von Bäbeli. Dieses etwas aufgesetzt wirkende Demetrius-Motiv gibt der Versöhnungsthematik eine weitere Wendung. Zunächst bewirkt die Enthüllung, dass der radikale Anwalt als Aristokratensohn von den Radikalen fallen gelassen wird, sein Grossratsmandat verliert und für die neue Nationalratsliste gar nicht aufgestellt wird. Erst seine Bewährung als Landwirt und eine äussere Bedrohung der Schweiz im Neuenburger Handel machen aus dem Paria im demokratischen Staat wieder den respektierten Bürger, der in den Nationalratswahlen im gleichen Jahr «als einer der ersten – aus der Wahlurne hervor[kam]» (S. 302).

Hartmanns Roman hat, wie die Herausgeber anhand der Rezensionen belegen, bei seinen Zeitgenossen relativ wenig Widerhall gefunden, in der Schweizer Öffentlichkeit noch weniger als in der deutschen. Aber weshalb soll der Roman den heutigen Leser interessieren, den literarisch ebenso wie den geschichtlich interessierten? Die Herausgeber stiessen auf ihn im Kontext ihrer Edition von Jeremias Gotthelfs Handwerkerroman Jakob, des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz von 1846 / 47. Ihr Interesse am Roman ist sowohl literarästhetisch wie historiografisch begründet, denn zum einen sehen sie Hartmanns Roman in der Nachfolge von Gotthelfs Zeitromanen, zum andern bezieht sich Gotthelfs Handwerkerroman bis zu den Freischarenzügen und dem Beginn des Berner «Freischarenregiments» auf dieselben historischen Ereignisse. Beide Bezüge mögen allerdings in dieser Form nicht recht zu überzeugen.

Zum einen lässt sich kaum belegen, dass sich Hartmann Gotthelfs Zeitromane zum Vorbild genommen hat. Die beiden Romane differieren sowohl thematisch wie in der Form beträchtlich. Während Hartmanns Roman eigentlich ein Geschichtspanorama ist, steht Gotthelfs Jakob in der Tradition des Bildungsromans.Zum andern ist der historische Bezug der beiden Romane ganz anderer Art. Dass Hartmanns Roman weiter ausgreift und über ein Jahrzehnt mehr umfasst als der Roman Gotthelfs, ist zwar ein recht banales Faktum, entscheidend daran ist allerdings die unterschiedliche literarische Herangehensweise. Während Gotthelf einen Handwerkerroman in der Zeit zwischen Zürichputsch und radikaler Machtübernahme in Bern schreibt, verfasst Hartmann einen historischen Roman über Meister Putsch und dessen Verabschiedung (vgl. S. 300) durch das Versöhnungswerk des Bundesstaats. Nicht Waldmann ist das eigentliche Thema, sondern die Geschichte der modernen Schweiz von 1840 bis 1857. Dabei unterscheidet sich Hartmanns Roman von den Zeitromanen Gotthelfs auch hinsichtlich des historischen Standpunkts. Während Gotthelf ganz von einem christlich-republikanischen und bernerischen Standpunkt aus denkt und in den Parteigängern des Bundesstaats prinzipiell schamlose Demagogen und Despoten sieht, sucht Hartmann als Partisan des Bundesstaats einen nationalen Standpunkt über den Parteien. Dabei vertritt er die These, dass der Bundesstaat nicht das Werk der radi kalen Putschisten und der deutschen Emigranten, sondern ganz und gar das der schweizeri-schen Liberalen war. Er steht damit am Anfang einer schweizerischen Historiografie des Bundesstaats, die bis ins 20. Jahrhundert fortwirkt.

Die Frage bleibt, warum dieser Roman in der schweizerischen Publizistik kaum auf Widerhall stiess und in der Öffentlichkeit so schnell vergessen ging. Die Antwort der Herausgeber auf die erste Teilfrage, dies sei «möglicherweise symptomatisch für die Presseentwicklung in der Jahrhundertmitte» (S. 312), hat etwas für sich, denn auch das Werk von Jeremias Gotthelf hat seine Fortüne zunächst in Deutschland gemacht und wurde erst dann «eingeschweizert», als Freisinnige und Katholisch-Konservative sich anzunähern begannen und Gotthelfs Werk als ideologischer Kitt des neuen Bauern- und Bürgerblocks nützlich schien. Die Hypothese muss also ergänzt werden, indem man die Entwicklung der ideologischen Verhältnisse einbezieht. Hartmann, der zwar einen schweizerischen Versöhnungsstandpunkt historiografisch und ideologisch einleitet, zielt dabei immer noch auf das Versöhnungswerk der Verfassung, vertritt also eine Art Verfassungspatriotismus, der mit Verfassungsfeiern zu fördern sei. Die späteren Liberalen, die unter der Bedrohung von links ihren Frieden mit den Katholisch-Konservativen machten, setzten nicht mehr auf die symbolische Kraft der Verfassung, sondern auf das Rütli, sie feierten nicht mehr den 12. September, sondern erfanden den 1. August. Nach-dem Meister Putsch und seine Gesellen die Werkstätte geräumt hatten, war die Versöhnungsvision Hartmanns schlicht nicht mehr aktuell.

Neben einem Nachwort über Quellenbezug, Kontext, Aufnahme und Wertung sowie historischen Rahmen bietet der editorische Anhang eine nützliche Übersichts tabelle über die im Roman behandelten historischen Ereignisse, in dem allerdings der Neuenburger Handel als Zielpunkt der Handlung vergessen ging, und ein Personenlexikon der Dramatis Personae. Dieses Personenverzeichnis, das nicht nur eine Kurzbiografie liefert, sondern die Person auch in Werk und geschichtlicher Deutung kontextualisiert, übernimmt im gewissen Sinn Kommentarfunktion. Nicht einsichtig ist allerdings, weshalb dieser Kommentar auf die handelnden Personen beschränkt wird, wenn man schon im Nachwort betont, es handle sich eben nicht um einen Schlüsselroman. Die Ausgabe beruht auf der bislang einzigen vollständigen Druckausgabe von 1858, notiert aber auch die Differenzen zum Vorabdruck einiger Kapitel, die 1857 im Bund erschienen. Sie stellt nicht den Anspruch, eine kritische Ausgabe zu sein, lässt variante Schreibweisen stehen, emendiert aber Druckfehler der Erstausgabe. Hier tut sie allerdings des Guten zu viel. Fliegenköpfe (auf dem Kopf stehende Buchstaben) hätten auch stillschweigend korrigiert und lediglich als Korrekturprinzip erwähnt werden können. Auch die Anführungszeichen, die nach einer Druckerkonvention des 18. und 19. Jahrhunderts in der Erstausgabe zu Beginn jedes Abschnitts pro memoria wiederholt werden, sind nicht stillschweigend getilgt, wie der editorische Bericht sagt, sondern werden minutiös als Emendationen im Fussnotenapparat aufgeführt. Das Inhaltsverzeichnis listet detailliert alle Teile des Herausgeberkommentars bis zum Literaturverzeichnis für das Nachwort auf, vergisst aber die Kapitel des Romans selbst. Das ist schade, denn diese haben, ähnlich wie die Kapitelüberschriften bei Gotthelf, bedeutungstragende Funktion und wären für den Leser eine nützliche Orientierungshilfe.

In einem Aufsatz, den die Herausgeber in ihrem Literaturverzeichnis nicht erwähnen, hat Rémy Charbon angemerkt, wenn man die Reaktion der Schweizer Intellektuellen auf 1848 studieren wolle, müsse man die Zeitungen jener Zeit durchgehen; er hat angefügt, auch die Schriftsteller, die bekannten wie Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf ebenso wie die vergessenen wie Adrian von Arx und Alois Bruhin, seien dabei zu berücksichtigen. Verdienst dieser Edition ist es, diesem Studium eine weitere Quelle erschlossen zu haben.

Zitierweise:
Ruedi Graf: Rezension zu: Hartmann, Alfred: Meister Putsch und seine Gesellen. Ein helvetischer Roman in sechs Büchern. Hrsg. und mit einem Nachwort von Patricia Zihlmann-Märki und Christian von Zimmermann in Zusammenarbeit mit Eveline Wermelinger. (Schweizer Texte. Neue Folge, Bd. 48). Zürich: Chronos 2017. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 4, 2018, S. 71-75

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 4, 2018, S. 71-75

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